Father Franklin – Juergen Fluhr

„Wir retten diese Kinder!“ – Wie ein Moment alles verändert und zur Hoffnung für unzählige Menschen wurde

Es ist heiß, laut und es stinkt, als Gabriele und Jürgen Fluhr 2007 aus dem Taxi steigen und gemeinsam mit Father Franklin einen Slum in Kalkutta besuchen. Das Ehepaar kennt den Priester, der sich hier und im indischen Bhopal für die Ärmsten der Armen einsetzt, seit langen Jahren. Franklin ist regelmäßig zu Gast in Osnabrück, um Spenden für seine vielen Hilfsprojekte zu sammeln.

Die Menschen bilden eine Traube um die europäischen Besucher, Smog und Schweiß bilden eine graue Schicht auf der Haut. Plötzlich löst sich ein Mann aus der Masse und drückt Gabriele ein Baby in den Arm. Es ist in Lumpen gehüllt, kaum vier Monate alt, aus dunklen Augen blickt es stumm in die Welt. Father Franklin ist betrübt und übersetzt schließlich, dass der Mann seine Tochter verkaufen möchte, für umgerechnet 20 Euro. Wort- und hilflos schauen Gabriele und Jürgen auf das Kind, dessen Leben buchstäblich in ihren Händen liegt. Sie können es nicht mit nach Deutschland nehmen und bitten Franklin, es in seinem Waisenhaus aufzunehmen. Mit trauriger Miene erklärt er, dass es unzählige Kinder gäbe, denen es schlechter gehe, die keine Eltern haben, keine Hoffnung, keine Zukunft – und sei sie auch nur 20 Euro wert. Auch er kann das Kind nicht nehmen.

„Der Moment, als wir das Mädchen zurückgeben mussten, war hart“, erinnert sich Jürgen Fluhr. „Wir besiegelten sein Schicksal voller Armut, Gewalt und schrecklichem Elend, fühlten uns schuldig und hatten doch keine Wahl. So etwas lässt dich nicht mehr los und uns war klar, dass wir für dieses und die unzähligen anderen Kinder etwas tun mussten.“ Ein paar Tage später führt Franklin seine deutschen Gäste durch eine seiner Schulen, die er für verlorengeglaubte Straßen- und Waisenkinder in Bhopal aufgebaut hat. „Der Kontrast zu den Kindern im Slum war gewaltig“, so Fluhr. „Ihre Augen strahlten, sie lachten und waren so voller Zuversicht und Lebensmut. Die Kluft zwischen grausamstem Elend und überquellenden Lebensglück ist in Indien wahnsinnig schmal. Ein paar Euro können alles verändern.“

Schon auf dem Rückflug nach Deutschland entschloss sich daher das Ehepaar Fluhr eine eigene Hilfsorganisation in Leben zu rufen, um Father Franklins Projekte zu unterstützen. Mit einer Handvoll Gleichgesinnter gründen sie 2008 die IndienHilfe Wallenhorst e.V., die sich ein paar Jahre später in IndienHilfe Deutschland e.V. umbenennen sollte.

„In den ersten Jahren sammelten wir einfach nur Geld“, erläutert Jürgen Fluhr. „Wir sprachen Leute an, Freunde, Bekannte. Erzählten von unserem Erlebnis und trafen auf enorme Hilfsbereitschaft. Wenn man sieht, wofür wir hier in Deutschland Geld ausgeben, mit welchen Sorgen und Problemchen wir uns rumschlagen und wie es anderswo in der Welt aussieht, dann kann man sich eigentlich nur noch hinsetzen und weinen … oder eben lachen.“

Das Lachen liegt Jürgen Fluhr mehr. Er ist ein fröhlicher Typ, der gut mit Menschen umgehen und sie vor allem überzeugen kann. „Jahrelange Vertriebserfahrung in Moskau und der Türkei“, schmunzelt er. „Gute Geschäfte machen liegt mir im Blut.“ Und tatsächlich nimmt das Projekt „IndienHilfe“ mehr und mehr Fahrt auf. Die Mitgliederzahlen wachsen, das Spendenaufkommen auch. 2013 errichtet der Verein einen kompletten Brunnen auf dem Schulgelände in Indien. Zwei Jahre später folgt der Bau einer eigenen Nähschule, in der junge Mädchen eine Ausbildung und damit die Chance auf ein besseres Leben erhalten.

„Wir kannten eine gelernte Näherin, die bereits in Rente war und für sechs Wochen nach Indien ging, um das Projekt fachlich zu begleiten“, erklärt Fluhr. „Die Mädchen bekommen nach ihrer einjährigen Ausbildung eine Nähmaschine nebst Utensilien geschenkt, mit der sie Geld verdienen und sich eine Zukunft aufbauen können. Mittlerweile gibt es vier Nähschulen, die von Ordensschwestern geleitet werden.“ Projekte wie dieses sind dringend nötig, denn jedes Jahr verlassen Hunderte von Heranwachsenden Franklins Schulen und Hostels, um Platz für neue Kinder zu machen. Ohne eine Ausbildung ist die Gefahr groß, dass sie in die Spirale aus Hunger, Angst und Ausbeutung zurückfallen.

Gemeinsam mit deutschen Unterstützern werden die ehemaligen Straßen- und Waisenkinder zu Schweißern, Mechatronikern oder Krankenschwestern ausgebildet. Manche studieren sogar und erfüllen sich Lebenswege, von denen sie ohne die IndienHilfe Deutschland e.V. nicht mal zu träumen wagten. „Letztlich bleibt es natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein“, weiß auch Jürgen Fluhr. „Auch wenn unser Spendenaufkommen immer weiter wächst und viele neue Heimplätze für Kinder geschaffen werden konnten, muss Franklin jedes Jahr zahlreiche hoffnungsvolle Kinder abweisen, für die schlicht kein Platz mehr ist. Aber wie heißt es noch so schön: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“

Tatsächlich wächst nicht nur das Spendenaufkommen. Auch die Komplexität der Projekte nimmt zu. Fördermittel von Stiftungen und dem Bund kommen hinzu und als 2016 der erste Geschäftsbericht erstellt wird, belaufen sich die Spendeneinnahmen auf stolze 148.000 Euro. „Heute stehen wir bei 250.000 Euro“, freut sich Jürgen Fluhr. „Hinzu kommen über 300 Mitglieder, 11 deutsch-indische Schulpartnerschaften und unzählige Unterstützer.“

Gerade die Schulpartnerschaften sind ein besonderer Baustein der Erfolgsgeschichte. Dabei  vermittelt und betreut die IndienHilfe Deutschland e.V. Partnerschaften zwischen deutschen und indischen Schulen. Es gibt Schulveranstaltungen, Unterrichtsinhalte, Brieffreundschaften und mittlerweile sogar schon Fahrten nach Indien. „Das Schöne bei uns ist, dass wir den Kindern einen sehr direkten und authentischen Einblick in unsere Arbeit und die indische Lebenswirklichkeit vermitteln können“, so Fluhr. „Father Franklin besucht uns fast jedes Jahr und erzählt den Schülerinnen und Schülern, was mit ihren Spenden alles ermöglicht wurde.“

Und es wurde viel ermöglicht: Alle Schulen, Kindergärten und sonstige Einrichtungen wurden mit Wasserfiltern ausgestattet, ein zweiter Brunnen gebaut, Plantagen und Felder bepflanzt, eine Imkerei aufgebaut, ein Wohnheim errichtet und Hunderte von Kindern ernährt, versorgt und ausgebildet. „Wir verfolgend zwei Ansätze“, verdeutlicht Fluhr. „Erstens wollen wir möglichst vielen Kindern Bildung und damit den Weg aus der Armut ermöglichen. Und zweitens sollen die Selbstversorgung der Schulen und Hostels gestärkt werden.“ Für Letzteres wurde im vergangenen Jahr eine eigene Büffelfarm aufgebaut. Mit Mitteln des Bundes errichtete die IndienHilfe Deutschland e.V. einen Stall für bis zu 50 Wasserbüffel, deren nahrhafte Milch nun verkauft oder zur Eigenversorgung genutzt werden kann.

„Der Dung wird über eine Biogasanlage zu Gas umgewandelt, was zum Kochen genutzt wird“, freut sich Jürgen Fluhr. „Das spart Brennholz, ist bequemer und nachhaltiger.“ Eine möglichst ökologische und klimafreundliche Versorgung der Kinder ist für die Fathers eine Selbstverständlichkeit. Aus Achtung vor der Schöpfung und aus Einsicht. Denn der Klimawandel trifft auch in Indien vor allem die Ärmsten der Armen. „2019 haben wir gemeinsam mit den Ingenieuren ohne Grenzen ein Wasserkonzept für das gesamte Areal erstellt. Wir müssen dringend Vorkehrungen treffen, damit der immer unsteter werdende Monsun nicht die Arbeit eines ganzen Lebens zunichtemacht.“

Tatsächlich hat Father Franklin hier im Stadtteil Shanti Nagar in Bhopal ein Lebenswerk geschaffen, das Seltenheitswert besitzt. Unzählige Kinder verdanken dem 80-Jährigen und seinen Unterstützern im fernen Deutschland nicht weniger als ihr Leben. Damit diese Oase der Hoffnung für alle Zeiten bestehen bleibt, gründet die IndienHilfe Deutschland e.V. derzeit, eine eigene Stiftung. „Für uns wäre es ein Traum, wenn wir so über Stiftungserlöse die Versorgung der Kinder über alle Generationen hinweg absichern könnten“, resümiert Jürgen Fluhr. Es wäre nicht der erste Traum, der dank der IndienHilfe Deutschland e.V. in Erfüllung geht.

Informationen zur Arbeit der IndienHilfe Deutschland e.V. finden sie unter www.indienhilfe-deutschland.de

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