Seit etwa einem Jahr ist Indien mehrfach wegen massiver Missachtung von Frauenrechten negativ in den Schlagzeilen der weltweiten Presse vertreten. Massenvergewaltigungen, teilweise mit Todesfolge, sind das Thema und ganz allgemein wird der gesellschaftliche Stand von Frauen in Indiens Gesellschaft kritisch beleuchtet.
Das ist die eine Seite von Indien. Doch dann gibt es auch eine ganz andere. Eine, von der wir uns in Deutschland eine Scheibe abschneiden könnten. Denn auch in Indien sind zwar die Chefposten häufig von Männern besetzt, doch gibt es in den letzten 20 Jahren einen Trend zu mehr weiblichen Führungskräften in Unternehmen, z. B. im Bankensektor. Und dieser Aufstieg von Frauen in die obersten Etagen der indischen Banken ist wirklich phänomenal.
Inzwischen stehen acht Frauen an der Spitze indischer Geldinstitute. Erst jüngst wurde Arundhati Bhattacharya zur ersten weiblichen Vorsitzenden der größten Bank des Landes, der State Bank of India, ernannt. Warum das so ist, ist leicht zu erklären und klingt eigentlich ziemlich einfach: Im indischen Bankenbereich zählt Leistung, nicht das Geschlecht. Sind indische Frauen einfach leistungsbereiter als deutsche?
Chandar Kochhar, die Geschäftsführerin der zweitgrößten indischen Bank ICICI, bestätigt, dass Frauen Opfer bringen müssen, um es an die Spitze eines Geldinstituts zu schaffen. Sie selbst hat Kinder, ist aber bereit im Job alles zu geben – lange Arbeitszeiten, Reisen und eine Top-Leistung. Die ICICI scheint ein guter Nährboden für solche Frauen zu sein, denn aus ihr gingen schon viele erfolgreiche Frauen hervor, wie z. B. Shikha Sharma, die Geschäftsführerin der Axis Bank.
Alle Leistungsbereitschaft genügt jedoch nicht, wenn diese Bemühungen und Leistungen nicht anerkannt werden und die Frauen selbst nicht an sich glauben. Ist das etwa der Unterschied zu Deutschland? Chandar Kochhar sagt auch, dass die gut ausgebildeten Frauen Indiens immer mehr an ihre eigenen Fähigkeiten glauben und dass auch die Gesellschaft den Frauen immer mehr zutraut. Je mehr Frauen dann in Führungspositionen stehen, desto mehr werden sie respektiert und anerkannt. Und Indien hat das ganz ohne Quote geschafft. Liegt es also doch an unseren Frauen?
Im Süden Mumbais werden im Jamnalal Bajaj Institute of Management die Führungskräfte der Zukunft ausgebildet. Auch Chandar Kochhar gehörte einst zu den Studentinnen des Instituts. Jedes Jahr werden dort nur 125 junge Frauen und Männer aufgenommen – bei mindestens 1.000 Bewerbern pro Studienplatz. Fragt man die jungen Frauen, die dort studieren, so sagen viele, dass sie es einfach satt hätten, ihr Leben als Hausfrau zuhause zu verbringen – das Schicksal vieler gut ausgebildeter Frauen in Indien. Viele der jungen Frauen werden in ihren beruflichen Ambitionen nicht übermäßig von ihren Familien unterstützt. Immer noch sehen Eltern für ihre Töchter die spätere Rolle der Ehefrau und Mutter als ideales Lebensmodell vor. Frauen, die hier studieren, müssen viel Widerstand überwinden und sind sehr ehrgeizig.
Warum aber wählen Frauen, die an die Spitze wollen, bevorzugt den Bankensektor? Die Arbeit in der Bank war immer schon ein sehr angesehener Beruf für Frauen. Der indische Bankensektor expandierte in den 1970er-Jahren, als die Banken verstaatlicht wurden, und immer mehr Frauen aus der Mittelklasse ergriffen den Beruf der Bankkauffrau. Tarjani Vakil war dann in den 1990er-Jahren die erste Frau an der Spitze einer indischen Bank. Sie sagt, für Frauen sei das damals ein Traumjob gewesen. Banken waren gut organisiert, es war ein sicherer Arbeitsplatz, sodass die Familien nichts dagegen haben konnten, wenn man dort arbeitete. Man saß in einem Büro mit Aircondition und war glücklich. Und dann hatte es auch noch etwas Glamouröses – wie immer, wenn es um Geld geht, so Tarjani Vakil.
In Indien ist die Kinderbetreuung auch kein so großes Problem wie bei uns. In den großen indischen Familien waren immer Großeltern vorhanden, die sich um die Kinder der arbeitenden Mütter kümmern konnten, und jede Frau aus der Mittelklasse hat eine oder auch mehrere Haushaltshilfen.
Nun wollen wir das Bild Indiens nicht zu rosig malen. Indien ist immer noch in weiten Teilen eine sehr konservative Gesellschaft. Die Rolle der Frau ist in den meisten Regionen Indiens stark von Traditionen geprägt. Seit der Vergewaltigung einer jungen Frau im Dezember 2012 ist jedoch eine heftige Diskussion im Land über die Behandlung der Frauen Indiens entbrannt. Gerade in der armen Bevölkerung – und das sind einige Hundert Millionen Inder – sind Frauen weiterhin sozial benachteiligt. Im Management der Unternehmenswelt, vor allem im Finanzsektor, ist Indien uns jedoch in punkto Gleichbehandlung der Geschlechter um einiges voraus.