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Briefe aus Indien „In hundert Tagen durch Indien“

Was kennzeichnet Indien-Reisende von heute, sind es Bildungshungrige, Abenteuertouristen, begeisterte Yogaschüler, Ayurveda Anhänger oder Sinn-Suchende, die Spiritualität erleben möchten? Nicht zu vergessen all die strebsamen jungen Wissenschaftler, die bereits über umfangreiche Kenntnisse von dem südasiatischen Land verfügen. Das war nicht immer so, denn die Wissenschaft hat sich dem indischen Subkontinent erst spät zugewandt, obwohl die Faszination seiner Geschichte und Kultur seit alters her ungebrochen ist.

Nun hat die renommierte Indologin und Publizistin Hiltrud Rüstau einen Sammelband mit Privatbriefen herausgebracht, die von dem Sanskritisten Walter Ruben (1899-1982) an seine Frau und seine Mutter geschrieben wurden, als er 1936/37 große Teile Indiens bereiste. Sein Vorhaben war nicht selbstverständlich, gab es doch unter den deutschen Sanskritisten lange Zeit kaum Interesse an Reisen in das gegenwärtige Indien. Sie wollten sich ihr Idealbild vom alten Indien ungetrübt erhalten, wie es sich ihnen in den alten Sanskrittexten repräsentierte.

Ausschnitt aus einem der Briefe von Walter Ruben
Ausschnitt aus einem der Briefe von Walter Ruben

Walter Ruben war schon in jungen Jahren davon überzeugt, dass Althistoriker den indischen Subkontinent bereisen sollten, um im damaligen Indien nach den Spuren der Vergangenheit zu suchen. Gerade aufgrund ihrer umfangreichen philologischen Kenntnisse der alten Quellen könnten sie durch die neu gewonnenen Beobachtungen und Reiseerlebnisse einen besonderen Zugang zu dem riesigen Land mit seinen uralten Traditionen und seiner langen, ungebrochenen Geschichte erlangen, ein Land, das zu den frühen Hochkulturen der Menschheit gehört. Ebenso bezweifelte Ruben, ob das zeitgenössische Indien mit seinen krassen sozialen Gegensätzen ohne Kenntnisse vom alten Indien überhaupt verstanden werden könne.

Ruben hatte seine Reise aus eigenen Mitteln und mit Unterstützung seiner Familie finanziert, wodurch er das Projekt nur mit größter Sparsamkeit  realisieren konnte. Sein Reiseplan war vom fachwissenschaftlichen  Interesse eines Indologen geprägt,  möglichst viel über das Land zu erfahren, aber vor allem stets auf der Suche nach Relikten der Kultur des alten Indien zu sein. Mit Bombay als Ausgangspunkt führte ihn seine akribisch geplante Rundreise u.a. nach Poona, Bijapur, Badami, Hospet, Coimbatore, Calicut, Madura, Trichinopolis, Cidambaram, Madras, Puri, Ranchi und Calcutta, weiter durch die Ganges Ebene nach Patna, Benares und Allahabad  bis in das Dschungelgebiet von Chota Nagpur, einem Hochland im Nordosten, das sich hauptsächlich auf das heutige Jharkhand, Chhattisgarh und Odisha erstreckt.

Bei seinen intensiven Erkundungen besuchte er unzählige Ruinenfelder von Tempeln und Palästen alter Königsreiche, besichtigte wichtige hinduistische Pilgerorte, erkundete buddhistische Höhlentempel und führte intensive Gespräche mit indischen Sanskrit-Gelehrten, aber auch mit Althistorikern, Patres und Missionaren. War niemand zugegen, der Englisch sprach, wurde diese Unterhaltung auch in Sanskrit geführt, da Ruben keine neuindischen Sprachen beherrschte. Von den brahmanischen Gelehrten wurde seiner Suche nach historischen Spuren nur wenig Beachtung geschenkt.

Sein besonderes Interesse galt der Stammesbevölkerung, vor allem den Asurs. Die Asuras werden in der Sanskritliteratur als mächtige Könige und Feinde der Götter geschildert und Ruben fragte sich, ob man in diesem Stamm der Asurs die Nachkommen dieser Asuras zu sehen habe. Nordwestlich von Gumla ( Jharkhand) begegnete er kleineren Dorfgemeinschaften, die bestimmte Ruinen, alte Scherben, Eisengeräte u.a. auf die Asurs zurückführten, die schon vor den jetzigen Stämmen hier gelebt hätten. In den Bergen traf er Gemeinschaften von Asurs, die ursprünglich Eisenschmelzer waren, inzwischen aber meist als kleine Bauern und Tagelöhner lebten, weil das Eisen, dessen Erz hier offen zutage liegt, heute von den großen Fabriken geschmolzen wird. Spätestens jetzt stellte sich  für ihn die Frage, ob hier Überreste einer alten Kultur zu finden sind, die schon bestand, bevor die Arier in das Gebiet eingedrungen sind. Ruben verstand seine intensive Arbeit bei der Feldforschung als praktische Ethnologie, bei der er in langen Gesprächen viele Einzelheiten über die Lebensweise der Asurs und andere Stämme erfahren und eine Vielzahl Artefakten wie altertümliche Eisengeräte und Tonscherben zusammentragen konnte.  Für Ruben waren diese Begegnungen die bei weitem interessantesten Momente seiner Reise, durch die er viele Anregungen für weitere Forschungen erhalten hat.

Zweifellos ist das Dschungelgebiet von Chota Nagpur eines der größten Rückzugsgebiete  ethnischer Stammesgruppen aus vorvedischer Zeit (etwa vor 1500 v.Z.), das in alten Sanskritschriften als Land der Asura, der Dasha bzw. Dasyu und Rakshasa beschrieben wird. Für den Sanskritisten ergab sich nun die Überlegung, wie weit die noch vorhandenen Kulturelemente der  Stammesgesellschaften als eine Art versunkenes Kulturgut der Hindukultur zu verstehen sind oder nachweisbare prähinduistische Elemente darstellen. Handelte es sich hier um Relikte älterer Kultur- und Wirtschaftsformen, die  durch die fortschreitende Ausbreitung der indo-arischen Gesellschaft bis in die entlegenen Waldgebiete des Dekhan-Hochlandes zurückgedrängt wurden? Die Erzählungen des Epos Mahabharata (etwa zwischen 400 v.Z und 400 u.Z.) dienten ihm u.a. als wichtige Hinweise für diesen Prozess. Jüngere ethnologische Forschungen deuten daraufhin, dass die vorarische Stammesbevölkerung bereits in agrarischen Gemeinschaften in Nordindien lebte, bevor sie von den massiv eindringenden indo-arischen Hirtenvölkern zum Rückzug in weiter entlegene Gebiete gedrängt wurde. Die Darstellung der Asurs in der altindischen Literatur erinnert an die Gestalt der Schmiede in anderen Kulturen, an mächtige, geheimnisvolle und gefürchtete Feinde, die Waffen aus Eisen herstellen konnten. Durch ihre magische Verbindung mit dem Feuer wurden ihnen dämonische Kräfte nachgesagt.

Neuere Forschungen zeigen, dass Ruben mit seinen Thesen zur frühgeschichtlichen Entwicklung in Nordindien eingefahrene Bahnen für die Erforschung der Kulturgeschichte verlassen und neue Denkansätze eingebracht hat, um durch interdisziplinäre Forschung die klassische Indologie zur historischen Indienkunde zu erweitern.

Mit der Veröffentlichung von Rubens Briefen hat die Herausgeberin einen höchst interessanten und sehr inhaltsreichen Band als Zeitdokument der Nachwelt erhalten, das ohne ihren Einsatz unwiederbringlich verloren gegangen wäre, aber durch ihr Engagement das Indien vor achtzig Jahren vor unseren Augen wiedererstehen kann.

Ungeachtet der Zeit, die inzwischen vergangen ist, bleibt die Erkenntnis hoch aktuell, dass für die Erforschung der Geschichte Indiens neben den textlichen Übermittlungen  auch die mündlichen Überlieferungen der indigenen Völkerschaften zum kulturellen Vermächtnis gehören. Indienkenner und Bildungshungrige, die sich besonders für die Stammesbevölkerung und deren Kulturen interessieren, bekommen bei der Lektüre einen realistischen Blick für eine „schriftlose“ Welt, die Ruben als wissenschaftliches Neuland betrat, während sie jetzt auf eine neue Weise den Highlights des heutigen Tourismus begegnen.

Dr. sc. Gottfried J. Freitag

„In hundert Tagen durch Indien“: Briefe eines Indologen. Briefe aus Indien von Walter Ruben an Emmi und Carlota Ruben
Herausgegeben von Hiltrud Rüstau
Draupadi Verlag, Heidelberg 2018, 167 S.
ISBN 978-3-945191-25-5, 198 Seiten, 19,80 Euro, mit Bildteil und eingelegter Indien-Landkarte

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