Foto: Brigitte Ziob

Als Frau sicher in Indien

Indienkenner im Interview

Nachdem im letzten Jahr eine Studentin von sechs Männern vergewaltigt wurde, brachen Massenproteste in Indien aus. Gewalt gegen Frauen ist seitdem ein Dauerthema in Zeitungen und den Nachrichten. Politik und Polizei wollen sich stark machen und Frauen intensiver schützen, doch das mittelalterliche Rollenbild und die Unterdrückung der Frau ist tief in die Gesellschaft eingepflanzt. Wir sprachen mit Brigitte Ziob, Diplom-Psychologin sowie Indienexpertin, Manabesh Chatterjee, Chef eines Reisebüros in Deutschland, und mit der in Indien lebenden Projektmanagerin Kerstin Meisner, über das Bild der Frau in Indien, den Tourismus und die entscheidende Frage: Wie können sich Frauen besser vor Übergriffen schützen, um möglichst sicher durch das Land zu reisen?

Frau Ziob, wie ist die heutige Lage von Frauen in Indien?

Brigitte Ziob
Brigitte Ziob

Brigitte Ziob: Es gibt ein Stadt-Land- und Nord-Süd-Gefälle. Im Straßenbild der Großstädte sieht man heute noch viele Frauen in bunten Saris und Salwars. Dazwischen bewegen sich aber immer öfter junge Inderinnen in Jeans und Kurtas, ein Kleidungsstil, der für Fortschritt und Moderne steht. Persönliche Kontakte vor allem zu städtischen Inderinnen gaben mir Einblick in das Leben von Frauen im Aufbruch, die aber gleichzeitig noch verbunden sind mit Tradition und dem Familienverband. Vor allem die gut ausgebildeten Frauen der städtischen Mittelschicht profitieren von der wirtschaftlichen Öffnung des Landes Anfang der 1990er-Jahre. Sie sind wirtschaftlich unabhängiger als die Frauen der Landbevölkerung, erreichen einen höheren Status in der Ehe und haben insgesamt größere Freiheiten, ihr Leben selbst zu gestalten. Auf dem Land dagegen leben die Frauen weitgehend in der traditionellen Frauenrolle, ohne über eigene finanzielle Mittel zu verfügen und in Abhängigkeit vom Ehemann. Ihr Leben ist oft geprägt durch Unterdrückung, denn diese Frauen werden von ihren Männern als Besitz betrachtet.

Männliches und weibliches Rollenbild in Indien

Und was macht das mit dem patriarchalischen Gesellschaftskonzept der Männerwelt?

Brigitte Ziob: Zunächst einmal muss man zurückgehen in der Geschichte des Landes, um die Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die über Jahrtausende das kulturelle Über-Ich bilden, zu verstehen. Das traditionelle hinduistische Bild der Frau hat sich in den letzten 2500 Jahren kontinuierlich verändert. Die damalige Industalkultur, die als das „Goldene Zeitalter“ angesehen wird, war in ihrer Blütezeit eine reiche Agrarkultur und galt als matriarchalische Kultur, mit verschiedenen Göttinnen, die mit dem Bild der Frau als Quelle des Lebens und der Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wurde. Doch ab ca. 700 vor Chr. verbreitete sich ein starkes Asketentum als Brahmanismus in der Hindu-Gesellschaft. Dies hatte zur Folge, dass sich der Status der Frau verschlechterte, die Möglichkeit der Scheidung wurde verworfen und Männer und Frauen waren nicht mehr gleichberechtigt bei den religiösen Zeremonien. In dieser Zeit entstand das berüchtigte Buch des Manu. Das „Manusmriti“ ist eine Abhandlung über den „Dharma“, der als göttliches Gesetz die Verhaltensregeln und die sozialen Pflichten festlegt. Parallel dazu besiegelte es eine Frauenfeindlichkeit, die sich über Jahrhunderte, bis in die heutige Zeit halten sollte. Manu stellte die Regel auf, dass eine Frau niemals unabhängig sein darf. Danach ist die Frau erst dem Vater, dann dem Ehemann und später ihren Söhnen unterstellt.

Welche Aufgaben hat eine indische Frau?

Brigitte Ziob: Die Frau hat sich dem Mann gegenüber devot zu verhalten, sie hat sich in ihrer eigenen Persönlichkeit zurückzunehmen. Die Vorstellung war, dass die Ehefrau ihrem Gatten ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben dient, seine Handlungen akzeptiert und seinem Willen gehorcht. Damit sollte die sexuelle Macht der Frau über den Mann kontrolliert werden. Bis heute bedeutet die Geburt eines Mädchens oft ein großes Unglück, da es nur vorübergehend in der Familie ist. Ein altes hinduistisches Sprichwort sagt: „Eine Tochter zu haben, ist wie den Garten des Nachbarn zu gießen.“ Denn später wird sie einen großen Teil des Familienvermögens als Mitgift verbrauchen, was gerade für die ärmeren Schichten bitter ist.

Westliche Frauen in Indien

Und welche Auswirkungen hat dieses Bild der indischen Frau auf das Verhalten gegenüber westlichen Frauen?

Brigitte Ziob: Es gibt eine große Geschlechterspannung in Indien, auch aus den vorher dargelegten Gründen. Dann gibt es in einigen Regionen weitaus weniger Frauen als Männer und es gibt junge Männer, die durch ihren niedrigen sozialen Status von Sexualität ausgeschlossen sind – das erzeugt Frustrationen. Die Realität, in der sie leben, spiegelt nicht mehr ihre Vormachtstellung wider, die sie von Kindheit an in ihren Familien erfuhren. Diese Entwicklung schafft auf Seiten der Männer Verunsicherung und Groll. So kommt es zu Situationen, in denen sie sich gewaltsam das nehmen, von dem sie glauben, dass es ihnen vorenthalten wird. Ein psychologischer Aspekt bei der Vergewaltigung liegt in dem ausagierten Hass des Mannes auf die Frau. Und dies kann eben auch westliche Frauen treffen, wenn sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sind.

Manabesh Chatterjee: Ich denke, dass Mitgift, Bollywood und die extrem ausschweifende indische Werbeindustrie immer mehr ein gesellschaftliches Bild, das sich um Reichtum, Schönheit und Erotik dreht, entwerfen. Nichts, an dem die Masse der Menschen Teil hat. Brave Väter, egal aus welcher Schicht, verzweifeln dabei an der hohen Mitgift, die gefordert wird, auf Reklametafeln in der Fernsehwerbung oder im Kino tanzen, schmachten, schminken sich leicht bekleidete Frauen sorglos und in westlich geprägtem Luxus schwelgend. In manchen Gegenden in Nordindien gibt es zudem ein krasses Missverhältnis im Anteil von Männern und Frauen in der Bevölkerung. Über Jahrzehnte hinweg wurden weibliche Föten abgetrieben. Durch den Tourismus kommen auch alleinreisende Frauen nach Indien, was für viele als Synonym für nicht verheiratet steht, und allein reisen, das machen noch sehr wenige Inderinnen. Schlimm ist jedoch das Bild der Freizügigkeit, das durch Bollywood und Werbung vermittelt wird und dann zur fatalen Annahme führt, bei Frauen handele es sich um Freiwild. Da werden fahrlässig Begierden geweckt, die nicht mit der gesellschaftlichen Entwicklung und dem Bildungsstand standhalten können. Generell finde ich, dass der Tourismus eine Bereicherung auch in Hinsicht einer anderen und modernen Begegnungswelt ist.

Frau Meisner, Sie leben seit 2005 in Indien. Nehmen Sie Veränderungen des Verhaltens von indischen Männern gegenüber westlichen Frauen wahr?

Kerstin Meisner
Kerstin Meisner

Kerstin Meisner: Nein, ich nehme keine Veränderung wahr, man wird noch immer angestarrt, in Restaurants allerdings auch oft bevorzugt behandelt. Indische Männer sind westlichen Frauen gegenüber neugierig und taxierend. Männer mit gewisser Bildung wissen, dass wir anders, freier und vor allem selbstständiger sind. Deshalb fühlen sie sich in vielen Dingen ebenfalls freier in Gegenwart westlicher Frauen als gegenüber indischen Frauen. Sie empfinden uns auch als unkomplizierter. Aber genau das könnte natürlich schnell ausgenutzt und falsch verstanden werden, denn „nein“ bedeutet in Indien sowieso nicht „nein“.

Und wie ist das Verhalten der westlichen Frauen den indischen Männern gegenüber?

Kerstin Meisner: Zu offen. Viele verstehen die strenge Kultur hier nicht. Vor allem Touristinnen, die zum ersten Mal hier sind, denken, es könnte Freundschaften zwischen westlichen Frauen und indischen Männern geben. Dies ist aus meiner Sicht aber nicht der Fall, es gibt immer Hintergedanken auf Seiten der indischen Männer. Frauen sind für Inder per se nicht dafür da, um Freundschaften zu schließen, sondern um Ehen einzugehen und den Fortbestand der Gesellschaft zu sichern.

Ein Kampf der Geschlechter

Kann man überhaupt sagen, dass eine Zunahme der Gewalt gegenüber Frauen stattfindet?

Brigitte Ziob: Ob es dabei wirklich verstärkt zu sexuellen Übergriffen auf westliche Frauen kommt, kann ich nicht beurteilen. Zunächst glaube ich, dass die Medien eine besondere Aufmerksamkeit Indien gegenüber haben und zurzeit über jeden neuen Vorfall von Gewalt gegen Frauen berichtet wird. Das führt dazu, dass Gewalt gegen Frauen nicht mehr so schnell bagatellisiert werden kann, sondern verstärkt in der indischen Gesellschaft diskutiert wird. Das hilft wiederum den Frauen, Übergriffe nicht einfach mehr hinzunehmen, sondern sich an die Polizei zu wenden. Eine besondere Auffälligkeit in Indien sind die zahlreichen Gruppenvergewaltigungen. Wichtig ist hier die Gruppendynamik, die dabei entsteht, verbunden mit Vorstellungen von Männlichkeit und Macht. Die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Opfers wird dabei oft genossen.

Sind Sie schon selbst in Situationen mit indischen Männern geraten, die Ihnen unangenehm waren?

Kerstin Meisner: Nein, da ich so gut wie nie allein unterwegs bin und somit tunlichst vermeide in solche Situationen zu geraten. Hier halte ich es wie die Inderinnen: Gehe nie allein irgendwo hin.

Brigitte Ziob: Nein, ich halte Indien auch heute noch für ein sicheres Reiseland, wenn man einige Regeln beachtet.

Können Sie Tipps geben, wie man sich als Frau in Indien generell verhalten soll, um bestmöglich Übergriffe zu verhindern?

Kerstin Meisner: Nicht alleine reisen. Man sollte nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf der Straße sein. Auch Straßen mit diesen kleinen Alkohol-Kiosken sollte man meiden, da dort ohnehin schnell Streitereien entstehen. Wenn man von einem Mann angesprochen wird, sollte man ihm deutlich zu verstehen geben, dass man an einer Unterhaltung nicht interessiert ist, gegebenenfalls auch lauter, damit andere Menschen aufmerksam werden. Zudem sollte man nicht allein in einer Rikscha fahren – nach Einbruch der Dunkelheit sowieso nicht. Nicht mit fremden Männern mitgehen, vor allem nicht nach einer tollen Party, was besonders für Goa gilt. Nicht preisgeben, wie man heißt, wo man wohnt, am besten angeben, dass man verheiratet ist und der Mann bald nachkommt. Aus meiner Sicht ist es am besten, man ignoriert indische Männer einfach, wie es auch Inderinnen tun.

Brigitte Ziob: Eine Frau sollte Kleidung tragen, die den Körper bedeckt, wie leichte Hosen, Kurtas, einen Schal umhängen und nicht so viel Bein oder Arm zeigen. Meiner Erfahrung nach, führt dies zu höherer gesellschaftlicher Akzeptanz. Kurze Röcke oder Shorts sind zu vermeiden! Den direkten Blickkontakt mit Männern zu vermeiden ist ratsam, denn sie interpretieren dies als Angebot, da sie es nicht gewohnt sind, dass indische Frauen ihnen direkt in die Augen schauen. Man kann das derzeitige schlechte Image der indischen Männer nicht verallgemeinern. In den Großstädten trifft man immer wieder auf junge Männer, die ein neues Rollenmodell leben, sich liebevoll um ihre Kinder kümmern und ihrer Ehefrau Freiheiten lassen. Genauso trifft man auf ältere Männer, die ein gutes Verhältnis zu ihren Töchtern haben.

Frau Meisner, welche Orte sind für Frauen sicherer zu bereisen und welche unsicherer?

Kerstin Meisner: Das kann ich leider nicht sagen. Ich denke aber, auf dem Land sollte man vorsichtig sein, da dort die überwiegende Anzahl der Männer sicherlich von Gleichberechtigung und all diesen Dingen noch nichts gehört und damit bestimmt auch nichts am Hut hat. Prinzipiell würde ich als alleinreisende Frau auch den Norden Indiens meiden. Es scheint relativ sicher, dass die Gewaltbereitschaft generell im Norden höher ist als im Süden und das nicht nur westlichen Frauen gegenüber.

Sicher durch Indien reisen!

Mittlerweile gibt es verschiedenste Reiseanbieter, die spezielle Reisen durch Indien anbieten, darunter Manabesh Chatterjee aus Frankfurt/Main.

Sie bieten mit Ihrem Reisebüro „Planreisen“ u. a. Kultur-, Gruppen- sowie Yogareisen quer durch Indien an. Wie sicher sind diese Reisen für Ihre Gäste?

Manabesh Chatterjee
Manabesh Chatterjee

Manabesh Chatterjee: Wir arbeiten in Deutschland und Indien mit Spezialisten zusammen. Unser oberstes Gebot ist der reibungslose Ablauf der Reise und die Sicherheit unserer Kunden. Wir bereiten sie auf ein traumhaftes, spannendes und widersprüchliches Land gut vor. Als Halbinder versuche ich aus meinem Verständnis für beide Länder den Kulturschock zum Erlebnis werden zu lassen. Dabei reisen Frauen und Männer mit uns zusammen oder in einer Gruppe.

In Kürze werden Sie auch spezielle Reisen für Frauen mit Frauen durch Indien anbieten.

Manabesh Chatterjee: Ein gute Freundin und ich haben uns das überlegt. Wir sind sehr berührt von dem was in Indien vorgeht und möchten auch gegen das negative Image angehen. Wir wollen in unseren Reisen die Vielfalt des indischen Frauenalltags, die Kultur und verschiedene Projekte von Frauen für Frauen mit einbinden. Es geht uns dabei um Begegnungen und Interaktion. Wir meinen nämlich, dass Reisen im besten Sinne nicht nur uns, sondern auch die Menschen, denen wir begegnen, bildet. In Indien braucht Veränderung viel Zeit, aber da tut sich etwas!

Frau Ziob, Frau Meisner, Herr Chatterjee wir bedanken uns für das Interview und wünschen Ihnen alles Gute für die Zukunft.

Ob der kürzliche Indienbesuch von Bundespräsident Joachim Gauck, der in seiner Rede dort auf die Verletzung von Frauenrechten in Indien einging, mittel- oder langfristig eine positive Auswirkung auf die Rollenverteilung in Indien haben wird, bleibt abzuwarten.
Das Interview führte Anja Jurkowska.

Politik und Gesellschaft

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